Das Gute leben: Von der Freundschaft mit sich selbst

Was sind unverzichtbare Bausteine für ein gutes Leben?

Haben wir ein Leben, oder leben wir ein Leben?

Was möchten wir am Ende unseres Lebens nicht bedauern müssen?

Diese Fragen standen im Mittelpunkt einer Veranstaltung der Österreichischen Notariatskammer, die ich im Juni 2019 besucht habe. Der Titel „Das Gute leben: Von der Freundschaft mit sich selbst“ hat mich angesprochen. In folgender Nachlese habe ich einige Impulse und Gedanken zusammengefasst, die mich inspiriert haben und vielleicht auch in euch etwas zum Schwingen bringen.

Referent Clemens Sedmak ist Universitätsprofessor und Buchautor. Er hat Philosophie, Theologie und Sozialethik studiert. In seinem Vortrag beschäftigte er sich mit Wegen für die Entwicklung von menschlicher Reife und für persönliches Wachstum. Hochspannende Fragen rund um das Gute leben, die Sedmak an folgenden vier Begriffspaaren erläutert:

  1. Demut und Respekt,
  2. Gemeinschaft und Alltag,
  3. Vorstellungskraft und Kraft sowie
  4. Hoffnung und Heilung.

Menschen ohne Agenda begegnen

Demut und Respekt bezeichnete Sedmak als Eckpfeiler eines guten Lebens. Es gehe nicht nur darum, was gut für einen selbst sei, sondern was gut für das Gemeinwesen sei. Demut und Respekt müsse man sich durch inneres Wachstum erst erarbeiten. Sie erfordern einen „tiefen Blick“, der Menschen nicht nur in einer spezifischen Lebenssituation erfasse. Weiters brauche es – spirituelle – Verwurzelung, durch die man es nicht nötig habe, jede Situation für Anerkennungsergebnisse zu instrumentalisieren. Drittens plädierte Sedmak für „Unbequemlichkeitsfähigkeit“. Man müsse Menschen ohne Agenda begegnen können und sie als Menschen und nicht als Objekt behandeln. Kein Mensch sei austauschbar, sagte der Wissenschafter.

Alltag gibt Halt

Zu den Begriffen Gemeinschaft und Alltag verwies er auf Aristoteles, dem zufolge man ohne Freundschaften nicht glücklich werden könne. Der Mensch sei auf Gemeinschaft angelegt. Auf die Frage, was man am Ende seines Lebens nicht bedauern wolle, höre man immer die Befürchtung, zu wenig in Freundschaften investiert zu haben. Einen Menschen zu lieben, heiße, „Zeit mit ihm zu verschwenden“. „Menschen wachsen dadurch, dass sie geliebt und in ihrem Wert erkannt werden“, erklärte er. Den Alltag bezeichnete Sedmak als „kostbares Gut“, das Halt gibt und für Vertrautheit sorgt.

Andere Geschichten erzählen

Mit Blick auf die Begriffe Vorstellungskraft und Kraft verwies der Philosoph auf unser Wissen, dass es auch anders sein könne, was Robert Musil als „Möglichkeitssinn“ bezeichnet hat. Menschen könne man dadurch verändern, dass man ihnen andere Geschichten erzähle. Argumente, machte Sedmak deutlich, spielen dabei eine weniger entscheidende Rolle. Der Körper sei unsere Behausung, es gebe einen Zusammenhang zwischen Körperlichkeit und Lebensart. Sedmak: „Es geht darum, den Körper zu bewohnen und im Einklang mit dem eigenen Körper zu sein.“

Ohne Hoffnung keine Menschenwürde

Zum Begriffspaar Hoffnung und Heilung erinnerte er an ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte aus dem Jahr 2013. Dieses habe deutlich gemacht, dass der Mensch ein Recht auf Hoffnung habe. Ohne Hoffnung nehme man dem Menschen die Würde. Ein gutes Leben brauche schließlich auch Heilung. Sedmak illustrierte dies mit einer jüdischen Geschichte, nach der unsere Aufgabe darin besteht, das in viele Teile zerfallene Licht zu sammeln und es der Dunkelheit entgegenzusetzen können.

Üben, Mensch zu sein

v.l.: Das Gute leben: Doris Helmberger-Fleckl moderierte die Diskussion von Cecily Corty, Gründerin der VinziRast für Obdachlose und Claus Sedmak, Philosoph, Theologe und Sozialethiker Fotocredit: Richard Tanzer

In der nachfolgenden Diskussion unter der Leitung von Doris Helmberger-Fleckl (Chefredakteurin von „Die Furche“) diskutierte Sedmak mit Cecily Corti, Gründerin der VinziRast– Einrichtungen. Corti berichtete, es habe sie schon früh die Frage beschäftigt, was den Menschen zum Menschen mache – und in welchem Ausmaß sich die Menschlichkeit von der Menschheit entfernt habe. Das Projekt der Notschlafstelle für Obdachlose war für sie von Beginn an auch ein Ort der Übung für eine bewusste und bessere Qualität der Beziehung unter uns Menschen. Obdachlose seien auf Grund ihrer Ungeborgenheit und existentiellen Exponiertheit geradezu gezwungen, das Wesentliche zu leben. Und so, wie sie meint, der Wirklichkeit des Lebens näher. Entgegen den Erwartungen der meisten Menschen draußen, habe es wenig Konflikte und Gewalt gegeben. Eine Atmosphäre des Vertrauens ermöglicht Ruhe und Entspannung. Corti sagte, sie habe ihre Tätigkeit nie als Mühe empfunden. Arm sei nicht der, der nichts habe, sondern der, der nichts ist, erklärte Corti. Armut bedeutet heute vor allem auch Vereinsamung und Beziehungslosigkeit. Versuche, die Armut zu „behandeln” und zu “verwalten”, müssen daher scheitern. In den VinziRast-Einrichtungen geht es vor allem um Offenheit und Respekt, um ein Gefühl von Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit zu ermöglichen. Kein Leben komme jedenfalls ohne Verletzungen oder Verlust aus. Es sei wichtig, sich selbst diesen Erfahrungen zu stellen, um wirkliches Mitgefühl, Empathie zu entwickeln.

 Das eigene Leben ernst nehmen

Das Gute Leben: Für ein gutes Leben präsentierte Sedmak abschließend drei Punkte:

  1. Wenn man in Rage gerate, solle man tief durchatmen und eine entsprechende emotionale Reaktion verzögern.
  2. Es sei wichtig, langsam in den Tag hineinzugehen, etwa mit einer Morgenmediation, und den Tag auch auf gute Weise zu beenden, etwa mit der Lektüre eines (geistigen) Buches.
  3. Glück werde – im Gegensatz zur Lebenszufriedenheit – überschätzt.

„Man kann das Glück nur finden, nicht aber suchen“, sagte Sedmak mit Blick auf die boomenden Glücksratgeber. Mensch sein müsse jedenfalls gelernt sein, sagte er. Corti bekundete Scheu vor Rezepten für ein gutes Leben und plädierte dafür, das eigene Leben und das der Anderen ernst zu nehmen.

Und was bedeutet gutes Leben für euch? 

Fotocredit Aufmacherbild: Taylor Smith on Unsplash